Sven Enger (58), Versicherungsexperte bei Vertragshilfe24.de, aus Hamburg, ist sich sicher, dass die wenigsten Lebens-Versicherungskunden wissen: Im § 222 des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) ist eine Bombe für die Versicherungsnehmer versteckt.
Nämlich: Die BaFin kann die Kündigung von Versicherungsverträgen verbieten, um ein Ausbluten der Versicherungsgesellschaft in Notlage zu verhindern. Die Kunden sitzen in der Sackgasse.
Im § 222 Absatz 5 heißt es: „Die Aufsichtsbehörde kann außerdem Anordnungen treffen, um einen außergewöhnlichen Anstieg der Zahl vorzeitiger Vertragsbeendigungen zu verhindern.“
Die Folge: Die Kunden sitzen nicht nur in der Sackgasse. Sie müssen sich außerdem ohnmächtig zu diesem Kündigungs-Verbotsparagraphen 222 VAG noch zwei weitere fiese Notmaßnahmen gefallen lassen:
Vertragshilfe24 Sven Enger über § 163 VVG und § 314 VAG
- Zusätzlich eine Leistungskürzung und Prämienerhöhung durch die Lebensversicherungskonzerne nach § 163 VVG (Versicherungsvertragsgesetz), wie Sven Enger jüngst auf Scoredex.com erläuterte.
- Zusätzlich noch ein Auszahlungsstopp der Lebensversicherung durch die Aufsicht BaFin nach § 314 VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz), wie Sven Enger vor wenigen Tagen im Interview mit Business-Leaders.net vertiefte.
Vertragshilfe24 warnt: Die Not für diese drei fiesen Paragraphen ist gar nicht so weit weg
Bereits am 19. August 2022 hatte der damalige BaFin-Exekutivdirektor der Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, Dr. Frank Grund (66), in seiner Rede auf dem Handelsblatt Strategiemeeting Lebensversicherung 2022 vor den Schattenseiten des Zinsanstieges für Lebensversicherungen gewarnt, wie Gegenargumente.org berichtete: „Durch steigende Zinsen werden alternative Anlageformen wieder attraktiver – was Versicherungsnehmer dazu bringen könnte, ihre Verträge zu stornieren. Und das könnte sich – wenn viele Kundinnen und Kunden auf einmal kündigen – kritisch auf die Liquidität der Lebensversicherer auswirken.“
Zum Zeitpunkt seiner Warnung standen nach seinen Angaben bereits 15 „Lebensversicherer unter intensivierter Aufsicht“.
Gegenargumente.org bat Sven Enger, der 15 Jahre lang selbst Chefposten bei Lebensversicherungen bekleidete (unter anderem Vorstand der Skandia Lebensversicherung AG in Berlin und Geschäftsführer des schottischen Lebensversicherers Standard Live in Edinburgh), zum Interview.
Interview mit Sven Enger von Vertragshilfe24 zum § 222 VAG (Kündigungsverbot)
Gegenargumente.org: Herr Enger, wer sich mit dem Thema Lebensversicherungen intensiver beschäftigt, weiß, dass eine Krise eines Unternehmens nicht nur für die Branche ein Risiko ist, sondern für die gesamte Wirtschaft. Was tut die Politik, um diese Gefahr zu mindern?
Sven Enger: „Das ist aufgrund der enormen Summen, die die Lebensversicherungen verwalten, eindeutig zutreffend. Der Politik ist diese Gefahr für die Wirtschaft selbstverständlich bewusst, und sie hat eine Reihe von Regeln festgelegt, um eine Insolvenz zu vermeiden. Die Aufsicht über die Stabilität der Versicherungen trägt die Bundesanstalt für Finanzaufsicht. Sie prüft regelmäßig, ob wirtschaftliche Probleme drohen und kann Maßnahmen anordnen, die zwar die Unternehmen schützen, die Kundinnen und Kunden jedoch stark benachteiligen. Am bekanntesten ist sicher der Paragraph 314 Versicherungsaufsichtsgesetz, laut dem Auszahlungen an die Versicherten ausgesetzt werden können. Weniger bekannt ist der Paragraph 222, der aus meiner Sicht die Kundinnen und Kunden allerdings noch weitreichender benachteiligt, denn dieser sieht ein Kündigungsverbot vor.“
Kündigungsverbot zeitlich unbegrenzt
Gegenargumente.org: Wie konkret würde sich das auswirken? Sprechen wir hier über eine temporäre Maßnahme?
Sven Enger: „Laut Paragraph 222 VAG bleibt das leider im Dunkeln. Die Aufsichtsbehörde soll dafür Sorge tragen, dass keine außergewöhnlich hohe Zahl an Kündigungen erfolgt. Wenn man sich die Reaktion der Kundinnen und Kunden in einer Krise ausmalt, ist recht schnell klar, dass möglichst viele sehr zeitnah aus den Verträgen aussteigen werden. Einen solchen Dominoeffekt soll die BaFin ja gerade vermeiden, doch wie soll ihr das anders gelingen, als durch ein dauerhaftes Kündigungsverbot? Selbst wenn das Unternehmen saniert werden würde, fehlt mir die Vorstellungskraft daran zu glauben, dass nicht der größte Teil der Versicherten die nächstbeste Gelegenheit nutzen wird, um die Verträge zu kündigen. Sollte es zur Anwendung des Paragraphen 222 kommen, befindet man sich also mehr oder weniger in einer Sackgasse, aus der man nicht mehr herausfinden wird.“
Gegenargumente.org: Haben die Versicherten eine Chance, früh genug zu erkennen, wann sie handeln müssten?
Sven Enger: „Es ist sicher denkbar, dass es eindeutige Anzeichen für wirtschaftliche Schwierigkeiten der Versicherung geben wird. Andererseits sollte man immer bedenken, dass es gerade die Aufgabe der BaFin ist, sehr frühzeitig Maßnahmen zur Stabilisierung zu treffen. Abgesehen von sehr unwahrscheinlichen Umständen würde ich deshalb dazu tendieren, dass die BaFin im Zweifelsfall wesentlich besser informiert ist als die Verbraucherinnen und Verbraucher. Man kann also getrost davon ausgehen, dass etwa die Inkraftsetzung des Kündigungsverbotes erfolgt, bevor die meisten Versicherten überhaupt erfahren, wie schlecht es um ihre Versicherung bestellt ist. Bei Maßnahmen wie der Aussetzung der Auszahlungen könnte man noch die Hoffnung haben, dass sich die Situation wieder beruhigt. Bei einem einmal ausgesprochenen Kündigungsverbot wird es meiner Ansicht nach leider zu spät sein, um sein Geld noch zu retten.“
Rückabwicklung statt Kündigung bietet Chance auf zusätzliche Rückzahlungen
Gegenargumente.org: „Am besten wäre es also, wenn man sich vom Vertrag trennt. Empfehlen Sie, die Police schnellstmöglich zu kündigen, bevor die BaFin Fakten schafft?
Sven Enger: „Man könnte nun natürlich sagen, dass man den Vertrag besser kündigt, bevor dies überhaupt nicht mehr möglich ist. Ich kann gut verstehen, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher aufgrund solcher Nachrichten, wie heute besprochen, stark verunsichert sind und lieber die Reißleine ziehen, bevor sie nichts mehr tun können.
Bedenken sollte man dabei aber bitte, dass sich eine Kündigung nicht mehr zurücknehmen lässt. Sie bedeutet zudem, dass man auf Ansprüche gegenüber der Versicherung verzichtet. Diese weitergehenden Ansprüche über den Rückkaufswert hinaus sind wegen der aktuellen Rechtsprechung jedoch besonders attraktiv für die Verbraucher.
Meine Empfehlung ist daher, dass man eine Abwicklung des Vertrages prüfen lassen sollte, bevor man diese Chance auf zusätzliche Rückzahlungen verpasst.“
Gegenargumente.org: Herr Enger, wir danken für das Interview.
Weitere Informationen zum § 222 VAG und seinen Auswirkungen auf Versicherte finden Sie in diesem Videobeitrag von Sven Enger in Zusammenarbeit mit dem Verbraucherportal Vertragshilfe24. (Autor Frank Maiwald)
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